Georg Lukács

Die ungarische Dramenliteratur

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Das Fehlen der philosophischen Kultur hat es verhindert, dag die wahrsten und tiefsten Talente des ungarischen Dramas, Katona und Madách, sich entwickeln und wirken konnten. Das Lebenswerk beider blieb sowohl an sich als auch in seiner Wirkung ein Fragment. Neben unseren Dramatikern, die die größte sinnliche Kraft und das abstrakteste Denken besaßen, entstand nichts, was von ihnen ausgegangen wäre, was das fortgesetzt hätte, was sie anfingen. Denn auch sie waren nur ein Anfang, sie zeigten sogar kaum Wege in Richtung des Dramas. Katona war einer der größten Dramatikertalente des vergangenen Jahrhunderts. Das harte, düstere Pathos seiner Sprache ist wirklich dramatisch. Seine Menschen sind—von den überflüssigen lyrischen Rührseligkeiten und psychologischen Zierereien abgesehen—voll dichteri­schen Lebens. Seine einzelnen Szenen sind voll dramatischer und tragischer Vehemenz und symbolischen Reichtums. Des menschliche und historische Problem konnte aber auch er nicht organisch vereinen: Den Menschen und den Hintergrund, die seelische und politische Tragödie verbinder nur die Identität der Personen; in seiner letzten Analyse ist also das ganze Gebäude episch. Mit diesem, das Größte versprechenden tragischen Versuch beendete Katona seine dichterische Laufbahn und es wäre hier sinnlos, nachzufor­schen, ob das wegen innerer oder äußerer Ursachen geschah, ob die Echolosigkeit ihn verstummen ließ oder das Gefühl, ohnehin nicht zur vollkommenen Reinheit, zur gelösten Form gelangen zu können. Madáchs Lage ist gerade das Gegenteil, die Ursachen weisen jedoch auf das Gleiche hin: auch er besaß—trotz seiner großen philosophischen Bildung und der Tiefe seiner Gedanken—keine lebendige philosophische Kultur. Seine Gedanken blieben Gedanken, sie wurden nicht zu Taten, sie wurden nicht dramatisch. In »Az ember tragédiája« (Die Tragödie des Menschen) blieben der Gedanke und seine Versinnlichung getrennt. Alle Geschehen symbolisieren, illustrieren irgendeinen welthistorischen oder kosmologischen Gedanken, diese lösen sich aber nicht ganz in ihm auf, sie blieben getrennt. Eine jede Szene ist schöner allegorischer Ausdruck eines tiefen Gedankens; der einzige Weg des dramatischen Ausdrucks des Gedankens ist aber der symbolische. Madáchs Dichtung ist somit kein Drama. Vom Gesichtspunkt der Versinnliching her ist sie episch: die Einheit der Person des Helden verbindet die bunten Abenteuer. Vom Gesichtspunkt des Ausdrucks des gedanklichen Inhalts her ist sie ein dialogisiertes Lehrgedicht: die Gedanken bleiben Gedanken, der Kampf ist höchstens ein Streit (und der äußere Kampf ist höchstens die Illustration dazu), die Dialektik ist nur intelektuell; sie ist noch nicht dramatisch.

Und neben dem Talent dieser beiden sind die dramatischen Qualitäten der anderen Dichter sehr klein. Das literarisch bedeutende Drama der klassischen Epoche der ungarischen Literatur stand unter der Wirkung der französischen Romantik, die äußerlich Shakespeare nachahmte; unter der Wirkung einer Richtung, die nicht einmal mit ihren größten originellen Dichtern ein wirklich wertvolles Drama zustande zu bringen vermochte. Wir erwähnen nur Lászlö Telekis »Kegyenc« (Der Günstling) als ein Drama, das sich unter diesen am stärksten dem wahren Drama annäherte; obwohl auch dieses Drama mehr maßlos als monumental ist und auch seine Menschenzeichnung nur mit Hilfe wilder Gegensätze das Schema mit lebendigem Leben füllen will. Vörösmartys »Csongor és Tünde« (Csongor und Tünde) in das lebendigste, vielleicht einzig wahrhaft organische Werk des ungarischen Dramas. Und es ist ein Drama, das nicht allein, ohne Fortsetzung und Nachfolger bleiben müßte. Denn dieses Gelingen wurde nicht durch das Zusammentreffen zufällig glücklicher äußerer und innerer Umstände zustande gebracht, sondern durch die bewußte und künstlerische Verschmelzung der ungarischen Märchenelemente, des ungarischen Volkshumorst mit der Stimmung und Technik des Shakespeareschen Lustspiels. Wenn das spätere ungarische Märchen‑Lustspiel anorganisch wurde, lag die Hauptursache darin, daß es seine hier bestehende Beziehung mit dem ungarischen Leben verlor. daß es Shakespeare und die Spanier und sogar ihre Epigonen seelenlos nachahmte. Denn jetzt brachte es nicht mehr das Wesenliche, die Grundstimmung und die daraus organisch herauswachsende Form mit den eigenen, ungarischen Inhalten in Zusammenhang, sondern übernahm die Außerlichkeiten (die lockere Szenenführung, die Mißverständnis‑Technik, die Wortspiele usw.). Somit entstanden leere, inhaltslose Sachen mit einer »poetischen« Sprache aus zweiter Hand, mit aus zweiter Hand übernommenen dekorativen Wirkungsmitteln ausgedrückt. Obwohl die stilistische Aktualität von »Csongor és Tünde« auch heute besteht, sie war sogar vielleicht noch nie so groß wie heute, wenn überall ein Teil des Dramas in Richtung des phantastischen, platonischen, antitragischen Märchendramas strebt; und um seine luftigen Inhalte versinnlichen zu können, es überall auf den Stimmungsswif der Volksmärchen zurückgreift (Hauptmann, Yeats, Synge usw.). Es wäre die notwendige Folge der Situation, wenn bei uns eine damit verwandte geistige Richtung auftreten würde, deren künstlerischer Ausdruck in der Richtung, in der Weiterführung der Richtung läge, die Vörösmarty hier begann. Das blieb aber bis heute nur eine theoretische Konstruktion.

Die Dichter, die um die Mitte des Jarhunderts auf der Bühne herrschen, sind Anhänger der ausländischen Bühnenliteratur. Ihre ungarischen Themen sind nur scheinbar ungarisch; sie sind nur ein Aufputz der Dramenschreibung mit ungarischen Namen und ungarischen Wörtern, die mit aus dem Ausland übernommenen Motiven und mit ausländischer Technik arbteitet. Wir charakterisieren selbstverständlich sowohl hier als auch im folgenden—wie schon bei der Erörterung der ausländischen Entwicklung—nur die Haupttypen; nach einer inhaltlichen Vollständigkeit strebt diese Arbeit nicht, kann sie nicht streben.


SOURCE: Lukács, Georg. Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas; herausgegeben von Frank Benseler (Darmstadt: Luchterhand, 1981); excerpt from Chapter XV: Die ungarische Dramenliteratur, pp. 542-544.. (Georg Lukács Werke; Bd. 15) Originally Fejlő désének története (1911) [The history of the development of modern drama]. Budapest: Magvető, 1978.  See also English translation of this section.


On Hungarian Dramatic Literature
by Georg Lukács, translated by Charles Senger

The Metaphysics of Tragedy: Excerpts by Georg Lukács

Arpad Kadarkay on Lukács on Madách

Lukács in Moscow: RAPP, Mór Jókai, Socialist Realism

The Tragedy of Man by Imre Madách, translated by George Szirtes
Scene 13

La Tragedio de L’Homo (Kritiko) de Sándor Szathmári

La Tragedio de L’Homo kaj Imre Madách” de Kálmán Kalocsay

Futurology, Science Fiction, Utopia, and Alienation
in the Work of Imre Madách, György Lukács, and Other Hungarian Writers:
Select Bibliography

Georg Lukács’ The Destruction of Reason: Selected Bibliography

Salvaging Soviet Philosophy (1)

Positivism vs Life Philosophy (Lebensphilosophie) Study Guide

Theodor W. Adorno & Critical Theory Study Guide

Marx and Marxism Web Guide

Sándor Szathmári (1897–1974): Bibliografio & Retgvidilo / Bibliography & Web Guide

Offsite:

Madách tragédiája” [In Hungarian: Madach’s tragedy]  (1955) by György Lukács

Georg Lukács @ Ĝirafo

La Tragedio de l’ Homo: Drama Poemo de Imre Madách
tradukis Kálmán Kalocsay (Budapest: Corvina, 1965)

Imre Madách - Vikipedio

La tragedio de l' homo - Vikipedio

The Georg Lukács Internet Archive

Internationale Georg-Lukacs-Gesellschaft e.V. [in German]


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